28.07.2006

Humaninsulin oder Insulinanaloga?

Fragen und Antworten zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2

Was sind Insulinanaloga?

Insulinanaloga sind in der Natur normalerweise nicht vorkommende, künstliche Abwandlungen des Hormons Insulin. Menschliches Insulin beruht auf einem im Erbgut des Menschen festgelegten Bauplan. Zur Herstellung von Insulinanaloga haben Pharmafirmen diesen in Jahrmillionen der Evolution erprobten Bauplan so abgeändert, dass Insulin-ähnliche Hormone entstehen, die wie natürliches Insulin den Blutzucker senken. Unklar ist bislang, welche gesundheitlichen Auswirkungen die langfristige Behandlung mit diesen veränderten Hormonen hat.

In Deutschland sind zwei Gruppen von Insulinanaloga auf dem Markt: "Insulin Lispro", "Insulin Aspart" und "Insulin Glulisin" sind kurzwirksame Insulinanaloga, deren Wirkung für wenige Stunden anhält. "Insulin Glargin" und "Insulin Detemir" sind langwirksame Insulinanaloga, deren Wirkung erst nach etwa 24 Stunden abklingt.

Die Hauptwirkung aller Insuline ist eine Senkung des Blutzuckerspiegels. Kurzwirksame Insulinanaloga sind so verändert, dass sie unter kontrollierten Laborbedingungen nach der subkutanen Injektion etwas schneller als Humaninsulin in den Kreislauf gelangen und ihre Wirkung dort auch schneller wieder abklingt. Es ist aber offen, ob die in Laborexperimenten messbaren Unterschiede im Blutzuckerprofil von gesundheitlicher Bedeutung sind.

Im Alltag kommen solche potentiellen Unterschiede im Wirkverlauf nämlich kaum zum tragen, weil bei Menschen mit Diabetes Typ 2 Anstieg und Absinken des Blutzuckerspiegels von einer Vielzahl weiterer Faktoren wesentlich stärker beeinflusst wird, als von der Wahl des Insulins: Dazu gehören unter anderem die individuell unterschiedliche Insulinempfindlichkeit, Zusammensetzung der Nahrung, körperliche Belastung, Ort der Injektion, Höhe des Blutzuckerspiegels vor der Mahlzeit und die Menge des injizierten Insulins.

Wie oft werden kurzwirksame Insulinanaloga verordnet?

Diese Zahlen sind nicht genau bekannt. Laut Arzneiverordnungsreport wurden 2004 in Deutschland 134,3 Millionen Tagesdosen an kurzwirkenden Insulinanaloga verschrieben. Die Verordnungen des Jahres 2004 würden demnach ausreichen, um etwa 368.000 Patienten zu behandeln. Wichtig ist: Diese Zahlen beziehen sich auf Patienten mit Diabetes Typ 1 und Diabetes Typ 2. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Typ-2-Diabetiker in Deutschland mit Insulinanaloga behandelt werden.

Einige Quellen behaupten, dass in Deutschland "400.000 Typ-2-Diabetiker" mit Insulin-Analoga behandelt werden. Nach Recherchen des IQWiG muss man davon ausgehen, dass etwa 40 Prozent der laut Arzneiverordnungsreport mit kurzwirksamen Insulinanaloga behandelten Patienten an Diabetes Typ 1 erkrankt sind. Demnach ist die Schätzung deutlich zu hoch. Die Zahl der im Jahr 2004 mit kurzwirksamen Insulinanaloga behandelten Patienten mit Diabetes Typ 2 dürfte eher bei 200.000 bis 250.000 liegen.

Wie sieht die moderne Therapie bei Diabetes mellitus aus?

Für die Behandlung ist es entscheidend, an welcher Diabetes-Variante ein Patient erkrankt ist. Patienten mit Diabetes Typ 1 können meist überhaupt kein eigenes Insulin mehr herstellen. Sie sind auf tägliche Injektionen angewiesen, das heißt so gut wie alle Patienten mit Diabetes Typ 1 werden mit Insulin behandelt.

Bei Patienten mit Diabetes Typ 2 auch "Alterdiabetes" genannt, stellt der Körper weiterhin selbst Insulin her, aber die Wirkung ist vermindert. International hat sich für Patienten mit Diabetes Typ 2 folgendes, abgestuftes Behandlungskonzept entwickelt.

Erste Therapieoption sind Diät und der Versuch einer Gewichtsabnahme. Auch ein moderater Gewichtsverlust kann die Stoffwechselstörung bereits deutlich bessern. Auf der zweiten Stufe stehen so genannte orale Antidiabetika. Erst auf der dritten Stufe steht der Einsatz von Insulin, wobei bei Patienten mit Diabetes Typ 2 in der Regel eine feste Kombination von Normalinsulin und Verzögerungsinsulin zum Einsatz kommt, die meist morgens und abends gespritzt wird. Nur ein kleiner Teil der Patienten mit Diabetes Typ 2 spritzt zu jeder Mahlzeit Insulin.

Stimmt es, dass bei Humaninsulin ein bestimmter Spritz-Ess-Abstand eingehalten werden muss, der bei Insulinanaloga entfällt?

Oft wird als Vorteil der kurzwirksamen Insulinanaloga angeführt, dass auf einen so genannten Spritz-Ess-Abstand verzichtet werden kann. Damit ist in der Regel gemeint, dass Patienten Humaninsulin eine halbe Stunde vor einer Mahlzeit injizieren sollen.

Tatsächlich gibt es für diesen Ratschlag keine solide wissenschaftliche Begründung. Patienten, die Humaninsulin erst kurz vor einer Mahlzeit spritzen, brauchen keine gesundheitlichen Nachteile zu befürchten, wie mehrere Studien zeigen.

Übrigens enthalten auch die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) genehmigten Fachinformationen zu den in Deutschland zugelassenen Humaninsulinen keine Empfehlung, dass ein halbstündiger Spritz-Ess-Abstand eingehalten werden sollte. Es gibt also für einen Arzt keinen zwingenden Grund, Humaninsuline anders einzusetzen als kurzwirksame Insulinanaloga.

Welche Vorteile der kurzwirksamen Insulinanaloga sind bei der Behandlung des Diabetes Typ-2 wissenschaftlich nachgewiesen? Stimmt es, dass Unterzuckerungen bei Insulinanaloga seltener auftreten?

Aus der Perspektive der Patienten hat die Diabetes-Therapie zwei Ziele. Zum einen soll sie Diabetes-typische Alltagsbeschwerden durch zu hohe oder zu niedrige Blutzuckerspiegel (Unterzuckerungen) vermeiden und ein weitgehend normales Leben ermöglichen. Zum anderen soll sie so gut es geht langfristigen Begleitkomplikationen vorbeugen, durch die Patienten mit Diabetes gefährdet sind. Dazu gehören zum Beispiel Herzinfarkte und Schlaganfälle, Erblindungen, Nierenversagen und Fußamputationen.

Fürsprecher der kurzwirksamen Insulinanaloga behaupten, dass diese Medikamente im Vergleich zu Humaninsulin sowohl die Lebensqualität verbessern als auch das von Komplikationen verringern.

Das IQWiG hat sich deshalb selbst auf die Suche nach Studien gemacht, die diese Vorteile für Patienten mit Diabetes Typ 2 belegen und außerdem die Hersteller gebeten, entsprechende Studien vorzulegen, die international üblichen Qualitätskriterien genügen. Der beschreibt das Ergebnis dieser Recherche. Obwohl das erste kurzwirksame Analoginsulin seit fast zehn Jahren auf dem Markt ist, gibt es insgesamt nur sieben Studien, in denen kurzwirksame Insulinanaloga und Humaninsulin bei Patienten mit Diabetes Typ 2 verglichen wurden. Diese Studien liefern jedoch keine Belege für eine Überlegenheit der Insulinanaloga.

Wie ist das IQWiG bei seiner Bewertung vorgegangen? Stimmt es, dass wichtige Studien nicht berücksichtigt wurden? Stimmt es, dass die das IQWiG die Patientenperspektive ungenügend berücksichtigt hat?

Es herrscht international Einigkeit, dass die zuverlässigste Basis für einen fairen Vergleich zwischen zwei Therapien so genannte randomisierte kontrollierte Studien (RCT) sind. Die Machart dieser Studien soll sicherstellen, dass Unterschiede in den Behandlungsergebnissen nicht zum Beispiel durch eine verzerrende Auswahl verschiedener Patientengruppen zustande kommen. Ohne die Beachtung solcher Vorsichtsmaßnahmen würde der Vergleich zwischen Humaninsulin und Insulinanaloga unzuverlässig.

Falsch ist die Behauptung, die vom IQWiG herangezogenen Studien (RCT) seien unter Bedingungen durchgeführt worden, die es nicht zulassen, die Ergebnisse auf den Behandlungsalltag zu übertragen. Die Daten für alle sieben ausgewerteten Studien wurden nicht in Kliniken, sondern in ambulanten Praxen erhoben. Abgesehen von ihren Besuchen bei den Studienärzten, lebten die Patienten also ihr ganz "normales" Leben, haben also zum Beispiel selbst entschieden, wann und was sie essen und welche anderen Behandlungen sie in Anspruch nehmen.

Angesichts der dürftigen Studienlage hat das IQWiG zusätzlich auch Studien anderer Machart begutachtet, die von den Herstellern als Beleg für angebliche Vorteile der kurzwirksamen Insulinanaloga vorgelegt wurden. Die Diskussion dieser Studien wird im ausführlich dargelegt. Das Resumée ist, dass diese Studien durch eine so große Zahl von gesundheitlichen Faktoren verzerrt sein können, dass aus ihnen keine zuverlässigen Schlussfolgerungen gezogen werden können.

Wer kritisiert das IQWiG?

Es war zu erwarten, dass die Hersteller der Insulinanaloga nach der Veröffentlichung des Berichts öffentliche Kritik äußern würden. Das ist eine Erfahrung, die international alle Institute machen, die sich mit der Bewertung von Medikamenten befassen. Die übliche Strategie ist es, die Methoden zu kritisieren und den Instituten zum Beispiel eine voreingenommene Auswahl von Studien vorzuwerfen.

Mittlerweile bestätigt ein weiteres Gutachten, dass das IQWiG bei der Erstellung des Berichts international übliche Standards angewendet und eingehalten hat. Das Unternehmen Lilly hat bereits vor einiger Zeit ein Gegen-Gutachten zur Bewertung "seines" kurzwirksamen Insulinanalogons Lispro erstellen lassen. Im Mai hat ein Lilly-Sprecher Teile des Gutachtens öffentlich vorgestellt. Bemerkenswert ist, dass die Lilly-Gutachter für ihre Beurteilung letztlich nur ebensowenig Studien identifizieren konnten, wie sie auch in den IQWiG-Bericht eingeflossen waren. Die Schlussfolgerung, die die Gutachter aus diesen Studien zogen, lautete: "Für Typ-2-Diabetes gibt es derzeit keine sicheren Hinweise für eine therapeutische Verbesserung."

Stimmt es, dass Insulinanaloga in anderen Ländern längst die wissenschaftlich anerkannte Standardtherapie sind und die Humaninsuline weitgehend ersetzt haben?

Verlässliche Zahlen, wie viele Patienten mit Diabetes Typ 2 in anderen Ländern mit kurzwirksamen Insulinanaloga behandelt werden, gibt es nicht. Generell gilt aber, dass das Verschreibungsverhalten der Ärzte durch weit mehr Faktoren beeinflusst wird, als nur durch die fachlich-wissenschaftliche Sachlage. Bekannt ist zum Beispiel, dass Pharmafirmen mittlerweile fast doppelt so viel Geld für Werbung und Marketing ausgeben wie für Forschung.

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