Stellungnahme des IQWiG zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) eines Gesetzes für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale Versorgung-Gesetz – DVG)

6. Juni 2019

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Das mit dem DVG angestrebte Ziel, versorgungsrelevante digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zügig in die Versorgung zu bringen, ist aus Sicht des IQWiG wichtig und gut. Jedoch sieht das IQWiG die Notwendigkeit,

  • die Einteilung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) anders zu gestalten,
  • die Bewertung nicht-ärztlicher DiGA innerhalb der gemeinsamen Selbstverwaltung zu halten
    und
  • für die Bewertung ärztlicher DiGA ebenfalls schnelle, angemessene Bewertungsverfahren vorzusehen.

Zu diesen drei Aspekten nimmt das IQWiG im Folgenden Stellung:

1. Einteilung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA)

Der Gesetzentwurf zum DVG beruht auf der Risikoeinteilung von DiGA gemäß den europäischen Richtlinien und Verordnungen in den Klassen I und IIa (Niedrigrisiko) und IIb und III (Hochrisiko). Das DVG bezieht sich allein auf den Niedrigrisikobereich.

Aus IQWiG-Sicht erscheint die Orientierung am Medizinproduktrisiko nicht ausreichend, um hieran unterschiedliche Wege in eine GKV-Erstattungsfähigkeit zu knüpfen. Denn auch DiGA mit in diesem Sinne niedrigen können erhebliche medizinische und finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen. So können beispielsweise Diagnostik-Apps das Gesundheitswesen vor erhebliche Probleme stellen, wenn die App durch vorschnelle, viel zu häufige Warnungen ihre Nutzer dazu auffordert, ärztliche Behandlung aufzusuchen. Eine solche App verursacht Folgerisiken, organisatorische Probleme und indirekt erhebliche Kosten. Ein weiteres Beispiel sind Apps, die risikoarme Therapieansätze verwenden (z. B. modifizierte Musik zur Behandlung von Tinnitus, spezielle Übungen bei psychischen Erkrankungen, etc.), die aber im Falle der Wirkungslosigkeit gesundheitliche Nachteile, unnötige Kosten und durch den Verzicht auf effektive Therapieansätze auch medizinische Risiken mit sich bringen können. Da in Zukunft mit steigenden Preisen von DiGA zu rechnen ist, kann eine vereinfachte Prüfung solcher Medizinprodukte dazu führen, dass aus Versichertengeldern zukünftig erhebliche Summen auf unnütze Therapieverfahren verschwendet werden. Hinzu kommt, dass Patientinnen und Patienten verunsichert und enttäuscht werden, wenn ihnen Therapieverfahren angeboten oder empfohlen werden, die sich in der individuellen Anwendung (oder in späteren Studien) als wirkungslos erweisen.

Wir schlagen daher vor, zwischen ärztlichen und nicht-ärztlichen Anwendungen zu trennen. Dort, wo DiGA ärztliche Funktionen – insbesondere in Diagnose und Therapie – übernehmen, wesentlich ergänzen oder wesentlich unterstützen, stehen und Schaden auf dem Prüfstand. Dort aber, wo DiGA nicht wesentlich mit ärztlichen Aufgaben interferieren, sondern primär Organisation, Dokumentation, Kommunikation, Information oder anderen Zwecken dienen, ist ein vereinfachter Weg in die GKV-Erstattungsfähigkeit sinnvoll.

Auch das britische NICE (National Institute for Health and Care Excellence) hat sich kürzlich dagegen entschieden, für Kriterien in Hinblick auf die Erstattungsfähigkeit die Medizinprodukte-Risikoklassen zugrunde zu legen [1]. Stattdessen wird auch vom NICE eine Einteilung von DiGA gemäß ihrer Funktion für sinnvoll erachtet.

2. Bewertung nicht-ärztlicher DiGA innerhalb der gemeinsamen Selbstverwaltung

Im Gesetzentwurf (§ 139e) wird dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Aufgabe zugewiesen, zu prüfen, welche DiGA „positive Versorgungseffekte“ aufweisen und daher GKV-Leistung werden. Dieser Plan ist nicht zielführend.

Das Prinzip der gemeinsamen Selbstverwaltung hat sich für das deutsche Gesundheitswesen langfristig als gut erwiesen, weil es einen Interessenausgleich zwischen Leistungsanbietern und Leistungserstattung herbeiführt. Zudem haben sich ihre Strukturen und Verfahren hervorragend bewährt und stehen im Einklang mit internationalem Vorgehen. Es ist kein Grund ersichtlich, Entscheidungen über die Erstattung neuer Methoden in der GKV an diesen Institutionen, Prozessen und Verfahren vorbei durch andere Institutionen treffen zu lassen. Dieser Plan wird absehbar zu erheblichen Friktionen zwischen zuständigen Institutionen und Prozessen führen.

Problematisch ist auch die Tatsache, dass das BfArM selbst gemäß § 32 MPG für „Entscheidungen zur Abgrenzung und Klassifizierung von Medizinprodukten“ zuständig ist. Damit erhält das Bundesinstitut die Gelegenheit, durch die Einstufung selbst zu bestimmen, ob es selbst oder der über die GKV-Erstattungsfähigkeit entscheiden kann. Ein solches Verweben von Prüfaufgaben in CE-Zertifizierung und GKV-Erstattungsfähigkeit kann zu Interessenkonflikten führen und ist daher bedenklich.

Fachlich gibt es im Kontext der gemeinsamen Selbstverwaltung deutlich mehr Erfahrung mit der Bewertung von Versorgungseffekten. Vor allem weil nicht-ärztliche DiGA eng mit der Organisation des Gesundheitswesens im Detail zusammenhängen, braucht man hier eine patienten- und wirklichkeitsnahe Einschätzung neuer Anwendungen, über die primär die Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung verfügen.

Wir schlagen vor, dass ein Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung anstelle des BfArM die in § 139e vorgesehenen neuen Aufgaben übernimmt. Im Grundsatz kann das geplante Verzeichnis digitaler Gesundheitsanwendungen in Struktur und Organisation eng an das bereits etablierte Vorgehen beim Hilfsmittelverzeichnis angepasst werden (vgl. § 139 SGB V).

Wir stimmen zu, dass für nicht-ärztliche DiGA (im Gegensatz zu ärztlichen Behandlungsverfahren und Arzneimitteln) „keine vergleichbar hohen Evidenzanforderungen zu stellen“ sind. Wir warnen jedoch davor, die Evidenzanforderungen auf Null abzusenken, so wie es derzeit in der Begründung zum Gesetz skizziert ist: Hier werden „Fallberichte, Expertenmeinungen, Anwendungsbeobachtungen, Studien oder sonstige valide Daten“ als hinreichender Nachweis positiver Versorgungseffekte dargestellt. Die sprachliche Gleichstellung von „Meinungen“ und „Daten“ ist völlig unangemessen und mit den internationalen Standards evidenzbasierter Medizin unvereinbar. In der gemäß § 139e Satz 7 geplanten Rechtsverordnung sollten für den Nachweis positiver Versorgungseffekte zumindest vergleichende Daten gefordert werden (analog zum Potenzialbegriff gemäß § 137e SGB V). Für eine Plausibilität positiver Versorgungseffekte und damit eine temporäre Erstattungsfähigkeit einer nicht-ärztlichen DiGA (gemäß § 139e Satz 3) könnten einfache 1-armige Studien, z. B. Fallserien oder Nutzerbefragungen, ausreichend sein.

3. Schnelle, angemessene Bewertungsverfahren für ärztliche DiGA

Der Gesetzesentwurf deckt allein Niedrigrisikomedizinprodukte (oder gemäß unserem o. g. Vorschlag: nichtärztliche DiGA) ab. Für digitale Hochrisikoanwendungen bleibt der allgemeine Weg gemäß §135 SGB V in die GKV-Erstattung. Dieser Weg führt über den und dauert gemäß den neuen gesetzlichen Vorgaben maximal 2 Jahre.

Wir regen an, für ärztliche DiGA eine schnellere Bewertung zu ermöglichen, um der Schnelllebigkeit digitaler Produkte entsprechen zu können. Konkret bietet es sich an, die etablierten Prozesse aus dem AMNOG-Verfahren für Arzneimittel und dem Verfahren nach §137h SGB V für Hochrisiko-Medizinprodukte adaptiert zu übernehmen [2]. Wenn ein strukturiertes und aussagefähiges Hersteller-Dossier zu bewerten ist, kann dies deutlich schneller erfolgen, als wenn ein Bewertungsinstitut die Unterlagen selbst recherchieren und zusammentragen muss.

Für die Hersteller digitaler Gesundheitsanwendungen könnte auf diese Weise eine „One-sizefits-all“-Bewertung ermöglicht werden: Der Hersteller legt seine Unterlagen zu einer DiGA vollständig vor. Dann wird geprüft, ob es sich um eine ärztliche oder nicht-ärztliche DiGA handelt. Für nicht-ärztliche DiGA schließt sich die vereinfachte Prüfung positiver Versorgungseffekte an. Für ärztliche DiGA erfolgt eine schnelle Nutzenbewertung gemäß derzeitiger Standards. In beiden Pfaden gäbe es die ergänzende Möglichkeit, vielversprechende aber noch nicht ausreichende Daten binnen einer Frist zu komplettieren und nachzureichen.

[1] National Institute for Health and Care Excellence (NICE): Evidence standards framework for digital health technologies https://www.nice.org.uk/Media/Default/About/what-we-do/our-programmes/evidence-standards-framework/digital-evidence-standards-framework.pdf

[2] Angelescu K, Sauerland S: Mobile Gesundheitsanwendungen: Welche ist nötig? Dtsch Ärztebl 2019; 116(21): A-1057 https://www.aerzteblatt.de/archiv/207821/Mobile-Gesundheitsanwendungen-Welche-Evidenz-ist-noetig