Stellungnahme des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen vom 07.06.2023 zum Legislativvorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts der Europäischen Kommission vom 26.04.2023

12. Juni 2023

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Förderung einer robusten Evidenzbasis für Entscheidungen in nationalen Gesundheitssystemen

Ein wesentliches Ziel des Vorschlags zur Revision des EU-Arzneimittelrechts ist es, den Zugang zu innovativen Arzneimitteln EU-weit auf nationaler Ebene zu verbessern. Ausgangspunkt ist zum einen die Feststellung, dass derzeit je nach Arzneimittel erhebliche Unterschiede in der Verfügbarkeit zwischen den Ländern bestehen, zum anderen aber auch, dass die Arzneimittelentwicklung sich bislang nur bedingt am tatsächlichen Bedarf („unmet medical need“) ausgerichtet hat. Dies deckt sich mit der Versorgungsperspektive, nach der ein neues Arzneimittel dann innovativ ist, wenn es die Versorgung verbessert, also einen Mehrwert für Patientinnen und Patienten gegenüber den bislang vorhandenen Therapieoptionen hat.

Auch die im Januar 2022 in Kraft getretene EU-Regulierung zur europäischen Nutzenbewertung (HTA-Regulation) soll die Verfügbarkeit von Arzneimitteln mit Mehrwert () auf nationaler Ebene verbessern, und auf die Verbindung mit der HTA-Regulation wird im Legislativvorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts folgerichtig an verschiedenen Stellen verwiesen.

An ein neues EU-Arzneimittelrecht muss daher auch die Anforderung gestellt werden, eine Arzneimittelentwicklung zu fördern und zu fordern, die die Fragestellungen der nationalen Gesundheitssysteme nach dem Zusatznutzen beantwortet und nicht allein eine Zulassung auf europäischer Ebene ermöglicht. Diesem Anspruch wird der von der EU-Kommission vorgelegte Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts aus mehreren Gründen nicht gerecht, auch wenn einzelne Ansätze erkennbar sind.

Zeitraum der Marktexklusivität bei Durchführung vergleichender Studien: Dauer verlängern, Prüfkriterium erweitern

So ist der Vorschlag, die Dauer der Marktexklusivität auch von der Qualität der vorgelegten (vergleichende Studien) abhängig zu machen, zwar grundsätzlich zu begrüßen. Der für die Durchführung vergleichender Studien vorgesehene Verlängerungszeitraum von 6 Monaten hat allerdings ein deutlich zu geringes Gewicht, z.B. im Falle eines Gesamtzeitraums der Marktexklusivität von 10 Jahren nur 5%. Aus Sicht des IQWiG ist es erforderlich, den Zeitraum auf 2 Jahre zu verlängern und dafür z.B. den derzeit vorgesehenen Basiszeitraum von 6 Jahren entsprechend zu verkürzen.

Unabhängig davon greift das im Vorschlag enthaltene Prüfkriterium „vergleichende Studien sind Teil des Zulassungsdossiers“ allerdings zu kurz: Denn für die Versorgungsperspektive ist es auch ausreichend (aber auch notwendig), dass die Ergebnisse vergleichender Studien zeitnah zum Marktzugang vorliegen. Zusätzlich sollten daher auch nicht im Zulassungsdossier enthaltene, aber bereits begonnene vergleichende Studien zu einer Verlängerung der Marktexklusivität führen können, sofern die Rekrutierung vor der Zulassung abgeschlossen wurde und die Studienergebnisse bereits vorliegen oder gemäß Planung spätestens 1 Jahr nach Erteilung der Zulassung, also zumindest zeitnah zum erwarteten Marktzugang, erwartet werden. In letzterem Fall sollte die Entscheidung über eine Verlängerung der Marktexklusivität nach Abschluss der Studie je nach Einhaltung des Zeitplans bestätigt oder widerrufen werden. Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang das Studienprogramm zum Wirkstoff Osimertinib beim Lungenkarzinom erwähnt: Die Zulassung erfolgte primär auf Basis nicht vergleichender Studien, die für die Frage des Zusatznutzens ungeeignet waren [1]. Da parallel zum Zulassungsverfahren bereits eine vergleichende Studie durchgeführt wurde, standen die entsprechenden Ergebnisse jedoch zeitnah nach Markteinführung zur Verfügung, sodass eine Folgebewertung durchgeführt wurde, aus der sich die Frage des Zusatznutzens von Osimertinib beantworten ließ [2].

Bereitstellung einer exzellenten Daten- und Forschungsinfrastruktur auf EU-Ebene notwendig

Auch zukünftig wird es nur durch hochwertige Evidenz möglich sein, echte Fortschritte bei der Arzneimitteltherapie zu identifizieren. Und nur dann kann es auf europäischer Ebene gelingen, diejenigen Arzneimittelinnovationen, die einen echten Fortschritt in der Therapie darstellen, zeitlich oder monetär bevorzugt in den nationalen Gesundheitssystemen zu verankern, also eines der wesentlichen Ziele der Revision des EU-Arzneimittelrechts zu erreichen. Gegenstand einer Revision des EU-Arzneimittelrechts muss es daher auch sein, neben der Incentivierung im Falle einer Generierung hochwertiger Evidenz auch die Hürden zur Generierung solcher Evidenz abzubauen.

Dabei sollte auch auf die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie zurückgegriffen werden. Die wichtigen Fortschritte im Arzneimittelbereich wurden hier durch pragmatische randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) mit kurzer Vorbereitungszeit erreicht. Dazu gehören nicht nur die großen Phase-III-Studien zur Impfstoffentwicklung, sondern auch Plattformstudien, in denen mehrere Therapieoptionen verglichen werden. Zu nennen ist hier insbesondere die in Großbritannien durchgeführte RECOVERY-Studie, die bereits in einer frühen Phase der Pandemie einen Überlebensvorteil durch die Anwendung von Dexamethason bei schwer erkrankten Patientinnen und Patienten nachgewiesen hat [3]. Weitere Beispiele sind die PRINCIPLE-Studie im ambulanten Bereich [4] und die TOGETHER-Studie zum Thema „Repurposed Drugs“ [5].

Exzellente Arzneimittelforschung in Europa kann also insbesondere dann gelingen, wenn eine Daten- und Forschungsinfrastruktur in Europa aufgebaut wird, mit deren Hilfe hochwertige, auch interventionelle Studien zeitnah und mit geringen Hürden durchgeführt werden können. Zu einer solchen Infrastruktur gehört auch die Bereitstellung von Ressourcen für die Planung, Abwicklung und Auswertung von Studien, was zum einen die Arzneimittelentwicklung durch kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) und Non-Profit-Organisationen unterstützt, zum anderen die Durchführung von wirkstoffübergreifenden Plattformstudien erleichtert, da diese zentral gesteuert werden könnten.

Insbesondere profitieren aber auch Arzneimittelentwicklungen in kleinen Populationen (z.B. seltene Erkrankungen, Pädiatrie) von einer solchen Daten- und Forschungsinfrastruktur, die diese wirkstoffübergreifenden Entwicklungsprogramme mit effizienten adaptiven Studiendesigns (Plattformstudien) ermöglicht. Solche Studien werden daher auch im Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts explizit benannt.

Die derzeit vorgesehen Strukturen (European Health Data Space [EHDS] und darunter auch DARWIN) schließen, neben offenen Fragen u.a. zur Qualität der aus heterogenen Quellen stammenden Daten, jedoch explizit interventionelle und damit auch pragmatische RCTs aus. Ein wesentlicher Zweig exzellenter Forschung mit versorgungsnahen Daten („real world data“) wird daher derzeit in diesen Strukturen verhindert, was dem Ziel der Revision des EU-Arzneimittelrechts „technologische Fortschritte bei der Generierung und Bewertung von Gesundheitsdaten berücksichtigen“ widerspricht. Dadurch verliert die EU auch den Anschluss an die internationale Forschungslandschaft, nicht nur auf akademischer, sondern auch auf regulatorischer Ebene, da z.B. die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA bewusst auch auf pragmatische RCTs mit „real world data“ setzt [6]. Die Revision des EU-Arzneimittelrechts bietet die Chance, aber auch die Notwendigkeit, hier gegenzusteuern.

Der Aufbau einer exzellenten Daten- und Forschungsinfrastruktur nach obiger Beschreibung sollte damit verbunden werden, dass Zulassungsstudien in der EU wo immer sinnvoll und möglich innerhalb dieser Struktur verbindlich durchzuführen sind oder alternativ die Nutzung der Infrastruktur als eine Komponente der variablen Unterlagenschutzzeiten zu verankern. Idealerweise und insbesondere für seltene Erkrankungen und in der Pädiatrie sollte dies in Form von effizienten Plattformstudien erfolgen. Diese Nutzung einer exzellenten Daten- und Forschungsinfrastruktur ermöglicht neben den bereits erwähnten pragmatischen RCTs zum einen auch eine Langzeitnachbeobachtung nach Abschluss der eigentlichen Zulassungsstudie, unabhängig davon, ob diese vergleichend oder nicht vergleichend durchgeführt wurde. Zum anderen verringert die konsequente Nutzung einer solchen Infrastruktur wesentliche Hürden bezüglich der Interpretierbarkeit nicht randomisierter vergleichender Studien. Denn bei der Verwendung unterschiedlicher Datenquellen für das neue Arzneimittel einerseits (einarmige Zulassungsstudie) und die Vergleichstherapie andererseits (z. B. „real world data“), wie derzeit oftmals praktiziert, bestehen jenseits der methodischen Herausforderungen zum Teil unüberbrückbare Hürden aufgrund mangelnder Interoperabilität sowie erheblichen Unterschieden in der Datenqualität und Datenverfügbarkeit zwischen den verschiedenen Datenquellen.

Festlegung eines evidenzbasierten Komparators: Einbindung der HTA-Agenturen erforderlich

Vergleichende Studien sollen gemäß Vorschlag nur dann zu einer Verlängerung der Marktexklusivität führen, wenn sie gegenüber einem evidenzbasierten Komparator durchgeführt werden. Dies ist zwar grundsätzlich sinnvoll, allerdings ist das im Vorschlag beschriebene Verfahren zur Festlegung eines evidenzbasierten Komparators ungeeignet.

Die Festlegung soll sich demnach aus der Beratung eines pharmazeutischen Unternehmers durch die Europäische Zulassungsbehörde EMA ergeben. Die Frage nach evidenzbasierten Komparatoren ist jedoch Kompetenz der nationalen HTA-Agenturen und dementsprechend in der HTA-Regulation z.B. im Rahmen der Feststellung der nationalen Fragestellungen nach dem PICO-Schema verankert. Es ist daher erforderlich, dass für die Festlegung eines evidenzbasierten Komparators die Kompetenz der HTA-Agenturen herangezogen wird, z.B. im Rahmen der auch in der HTA-Regulation gemeinsamen Beratungen mit der EMA.

Förderung der Entwicklung von Arzneimitteln für besondere Therapiegebiete, insbesondere für seltene Erkrankungen

Es ist grundsätzlich nachvollziehbar und sinnvoll, Maßnahmen zur Förderung der Arzneimittelentwicklung in Bereichen mit hohem medizinischem Bedarf zu ergreifen. Dazu gehören auch viele seltene Erkrankungen, für die noch keine oder keine zufriedenstellenden Therapieoptionen existieren. Auch für seltene Erkrankungen sollte jedoch, wie in den allgemeinen Zielen des Vorschlags zur Revision des EU-Arzneimittelrechts festgestellt, die Entwicklung solcher Arzneimittel gefördert werden, die einen echten Mehrwert für die Patientinnen und Patienten erbringen, und diese sollten dann auch EU-weit verfügbar gemacht werden. Der vorgelegte Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts wird diesen Zielen für seltene Erkrankungen nicht gerecht.

Streichung des Kriteriums „significant benefit“ erforderlich

Der Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts sieht einige Anpassungen im Zusammenhang mit der Feststellung des Labels „Orphan Drug“ vor. Weitgehend unverändert soll jedoch das Kriterium eines „significant benefit“ erhalten bleiben. Demnach kann ein neues Arzneimittel für seltene Erkrankungen in den Fällen, in denen es bereits eine zufriedenstellende Diagnose-, Vorbeugungs- oder Behandlungsmethode gibt, das Label „Orphan Drug“ erhalten, wenn das neue Arzneimittel von signifikantem („significant benefit“) ist.

Empirisch wurde jedoch nachgewiesen, dass das Kriterium „significant benefit“ nicht die tatsächliche Evidenzlage im Sinne eines Zusatznutzens gegenüber einer Standardtherapie widerspiegelt [7]. Auch weil die auf diesem Kriterium basierende Vergabe des Labels „Orphan Drug“ weitreichende Folgen für die nationalen Erstattungsentscheidungen haben kann [8], sollte dieses Kriterium daher gestrichen werden. Denn das Festhalten an diesem Kriterium gefährdet das Ziel der Revision, insbesondere solche Arzneimittel in der Versorgung in Europa zu verankern, die nachweislich einen Mehrwert für Patientinnen und Patienten haben.

Auch für seltene Erkrankungen und andere zu fördernde Therapiegebiete sollten hochwertige Evidenz und ein EU-weiter Marktzugang incentiviert werden

Die Tatsache, dass für etwa die Hälfte der Arzneimittel für seltene Erkrankungen kein gegenüber der bisherigen Standardtherapie nachgewiesen ist, beruht in den meisten Fällen darauf, dass keine adäquaten vergleichenden Daten vorliegen [7]. Die mit der dem Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts weiterhin beabsichtige Förderung der Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Erkrankungen muss daher auch die Komponente „Evidenzgenerierung“ angemessen berücksichtigen, damit sie erfolgreich ist.

Dazu gehört nicht nur die oben skizzierte Bereitstellung einer exzellenten Daten- und Forschungsinfrastruktur, sondern auch die Incentivierung der Durchführung vergleichender Studien, was jedoch derzeit nicht vorgesehen ist. Da zudem gerade auch für Arzneimittel für seltene Erkrankungen der europaweite Zugang derzeit unzureichend und daher eine wesentliche Zielsetzung der Revision ist, ist auch diese Komponente bei der Feststellung des Zeitraums der Marktexklusivität wichtig, aber ebenfalls derzeit nicht vorgesehen.

Insgesamt erscheint es daher sinnvoll, auch für Arzneimittel für seltene Erkrankungen keine Sonderregeln, sondern im Grundsatz die allgemeinen Regeln zur Festlegung des Zeitraums der Marktexklusivität anzuwenden. Dabei kann eine gesonderte Förderung von Arzneimitteln für seltene Erkrankungen durch eine Zusatzkomponente ermöglicht werden, z.B. durch Erweiterung des Zeitraums der Marktexklusivität um 1 Jahr.

Diese Zusatzkomponente könnte zudem allgemein auf zu fördernde Therapien bzw. Therapiegebiete bezogen werden und damit z.B. auch die beabsichtigte Förderung der Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder und von Reserveantibiotika adressieren. Eine solche prinzipielle Vereinheitlichung der Regeln für die Festlegung des Zeitraums der Marktexklusivität wäre insgesamt damit verbunden, dass sowohl die Generierung hochwertiger Evidenz als auch ein EU-weiter Zugang grundsätzlich gefördert und damit zwei der wesentlichen Ziele des Vorschlags zur Revision des EU-Arzneimittelrechts für jedes Therapiegebiet adressiert werden.

Definition des Kriteriums „unmet medical need

Das Kriterium „unmet medical need“ spielt eine zentrale Rolle im Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts. So wird beispielsweise bereits in den Erwägungsgründen ausgeführt, dass die Arzneimittelentwicklung in der EU zukünftig prinzipiell stärker darauf ausgerichtet sein soll, „unmet medical need“ zu adressieren, was nach Feststellung der EU-Kommission bislang nur bedingt der Fall ist. Der Begriff „unmet medical need“ hat aber auch spezifische Bedeutung, z.B. bei der Festlegung des Zeitraums für die Marktexklusivität eines neuen Arzneimittels.

Die in dem Vorschlag der EU-Kommission genannte grundsätzliche Definition ist aus Sicht des IQWiG zwar sinnvoll („a life-threatening or seriously debilitating disease with remaining high morbidity or mortality, and the use of the medicinal product results in a meaningful reduction in disease morbidity or mortality“). Allerdings greift der aktuelle Vorschlag zur Umsetzung insbesondere aus folgenden Gründen aus Sicht des IQWiG zu kurz:

  • Die Konkretisierung der Komponente „remaining high morbidity and mortality“ soll auf spätere Implementing Acts ausgelagert werden.
  • Für die Komponente „the use of the medicinal product results in a meaningful reduction in disease morbidity or mortality“ fehlt ein Hinweis darauf, wie dies konkretisiert werden soll. Diese Komponente erfordert hochwertige vergleichende Daten, die im Zulassungsverfahren jedoch nicht zwingend vorgesehen sind. Zudem hängt die Feststellung einer „meaningful reduction“ von der Ausgangssituation und damit der derzeitigen Versorgung einschließlich bereits verfügbarer Therapien ab. In den Fällen, in denen die bereits zugelassenen Therapieoptionen nicht EU-weit zur Verfügung stehen, ist daher zur Frage einer „meaningful reduction“ keine einheitliche Aussage sinnvoll und möglich. Es bleibt unklar, welcher Ansatz aus Sicht der EU-Kommission hier verfolgt werden soll (z.B. theoretisch bestmögliche Versorgung in der EU oder mittlerer Versorgungsstand in der EU).

Insgesamt ist es aufgrund der weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem Begriff „unmet medical need“ ergeben, aus Sicht des IQWiG erforderlich, dass bereits in der Direktive die Kriterien für den Nachweis eines „unmet medical need“ eindeutig definiert werden und dies nicht, wie derzeit vorgesehen, auf nachfolgende Implementing Acts ausgelagert wird. Der hierfür im Vorschlag zur Revision vorgeschlagene Weg einer wissenschaftlichen Fundierung sollte unter Einbindung der Vertreter der nationalen Gesundheitssysteme und der HTA-Agenturen erfolgen.

Übermittlung individueller Patientendaten an die EMA

Die mit dem Vorschlag vorgesehene Übermittlung individueller Patientendaten an die EMA ist uneingeschränkt zu begrüßen. Das bereits seit langem praktizierte Vorgehen der FDA, die regelhaft auf solche Daten für eigene Auswertungen zurückgreift, zeigt, dass sich hieraus wichtige Erkenntnisse über das Zulassungsdossier und etwaige Zusatzauswertungen des pharmazeutischen Unternehmers hinaus ergeben können.

Die gezielte Auswertung individueller Patientendaten hat allerdings nicht nur für das Zulassungsverfahren der EMA eine hohe Bedeutung, sondern auch für die anstehenden EU-HTA-Bewertungen. Europäische HTA-Agenturen sollten daher begründet Zugang zu denjenigen individuellen Patientendaten erhalten, die der EMA vorliegen. Dabei sollten zwei Wege der Bereitstellung durch die EMA ermöglicht werden:

  • als individuelle Patientendaten, sofern ein relevantes Re-Identifikationsrisiko für die Patientinnen und Patienten ausgeschlossen werden kann
  • als aggregierte Auswertung, erstellt von der EMA, bezüglich der von der HTA-Agentur an die EMA übermittelten Fragestellung

Begründet sollten auf diesen Wegen auch pharmazeutische Unternehmen Zugriff auf individuelle Patientendaten von nicht von ihnen selbst durchgeführten Studien erhalten, sofern dies im Rahmen des EU-HTA-Verfahrens erforderlich ist. Dies kann z.B. bei der Erstellung indirekter Vergleiche für das EU-Dossier der Fall sein.

Bibliographische Zulassungsanträge: Evidenzbasiertes Vorgehen erforderlich

Im Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts ist, wie bereits im aktuell gültigen EU-Arzneimittelrecht, die Möglichkeit eines Zulassungsantrags auf Basis bibliographischer Daten verankert. Bei solchen Anträgen wird auf öffentlich verfügbare Informationen zurückgegriffen. Es wurde mehrfach nachgewiesen, dass sich aus öffentlich verfügbaren Informationen aufgrund selektiver Publikation von Daten (ganze Studien, aber auch einzelne Daten von Studien) potenziell ein erheblich verzerrtes Bild ergibt [9, 10]. Aus Sicht des IQWiG ist es daher erforderlich, dass Zulassungsanträge auf Basis bibliographischer Daten und die damit verbundenen Zulassungsentscheidungen den Standards der evidenzbasierten Medizin folgen. Dazu gehören insbesondere folgende Aspekte:

  • Um eine selektive Dateneinreichung zu vermeiden, müssen die Daten im Zulassungsdossier auf einem systematischen Review basieren.
  • Als eine wesentliche Komponente muss der systematische Review eine umfangreiche Informationsbeschaffung enthalten, die nicht nur die Identifikation aller öffentlich verfügbaren Informationen zu abgeschlossenen Studien, sondern auch die Identifikation bislang unpublizierter Studien zum Gegenstand hat.
  • Bei der Zulassungsentscheidung ist der potenzielle Einfluss unpublizierter Daten (ganze Studien, einzelne Ergebnisse) zu berücksichtigen.

Diese Anforderungen an das Zulassungsdossier und an die Bewertung der Zulassungsbehörden sollten in Implementing Acts festgelegt werden, und dies sollte mit der Revision im EU-Arzneimittelrecht verankert werden.

Vergleichende Werbeaussagen: Verweis auf Fachinformation (Summary of Product Characteristics) nicht sinnvoll

Der Vorschlag zur Revision des EU-Arzneimittelrechts enthält verschiedene Regelungen zur Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel. Vergleichende Werbeaussagen sollen im Prinzip untersagt sein, es sei denn, dass die Fachinformation des beworbenen Arzneimittels vergleichende Aussagen enthält.

Aus Sicht des IQWiG ist diese Ausnahme insbesondere aus folgenden Gründen nicht sinnvoll:

  • Studien und ihre Ergebnisse werden in Fachinformationen deutlich verkürzt dargestellt. Diese Darstellung ist daher oft unvollständig oder teilweise verzerrt (siehe z.B. [11, 12]), im Falle indirekter Vergleiche oft auch methodisch problematisch.
  • Vergleichende Bewertungen sind Aufgabe der HTA-Agenturen, z.B. im Rahmen der zukünftigen EU-HTA-Bewertung. Die Bewertungen der HTA-Agenturen fließen jedoch nicht in die Fachinformation ein, sodass potenziell Widersprüche zwischen Werbeaussagen und Bewertungen der HTA-Agenturen entstehen.

Zusammenfassend sollte daher die Ausnahme einer Übernahme vergleichender Aussagen aus der Fachinformation zu Werbezwecken gestrichen werden.

Köln, 07.06.2023

Dr. Thomas Kaiser
(Institutsleiter)
PD Dr. Stefan Lange
(Stv. Institutsleiter)
Dr. Beate Wieseler
(Ressortleiterin Arzneimittelbewertung)

Literatur

[1] . Nutzenbewertungsverfahren zum Wirkstoff Osimertinib (nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom, T790M-EGFR-Mutation); Website. 2016 [Zugriff: 07.06.2023]. URL: https://www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/224

[2] Gemeinsamer Bundesausschuss. Nutzenbewertungsverfahren zum Wirkstoff Osimertinib (Neubewertung nach Fristablauf: nicht-kleinzelliges Lungenkarzinom, T790M-EGFR-Mutation); Website. 2017 [Zugriff: 07.06.2023]. URL: https://www.g-ba.de/bewertungsverfahren/nutzenbewertung/286

[3] Randomised Evaluation of COVID-19 Therapy (RECOVERY); Website. 2023 [Zugriff 07.06.2023]; URL: https://www.recoverytrial.net

[4] Platform Randomised Trial of Treatments in the Community for Epidemic and Pandemic Illsesses (PRINCIPLE); Website. 2023 [Zugriff 07.06.2023]. URL: https://www.principletrial.org

[5] A multi-center, adaptive, randomized, platform trial to evaluate the effect of repurposed medicines in outpatients with early coronavirus disease 2019 (COVID-19) and high-risk for complications (TOGETHER trial); Website. 2023 [Zugriff 07.06.2023]. URL: https://www.togethertrial.com

[6] Wieseler B, Neyt M, Kaiser T, Hulstaert F, Windeler J. Replacing RCTs with real world data for regulatory decision making: a self-fulfilling prophecy? BMJ 2023; 380: e073100

[7] Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. zu Orphan Drugs; [online]. 2022 [Zugriff: 07.06.2023]. URL: https://www.iqwig.de/download/ga21-01_evidenz-zu-orphan-drugs_arbeitspapier_v1-0.pdf

[8] Kranz P, McGauran N, Banzi R, Ünal C, Lotz F, Kaiser T. Reforming EU and national orphan drug regulations to improve outcomes for patients with rare diseases. BMJ 2023 ;381: e072796

[9] Köhler M, Haag S, Biester K, Brockhaus AC, McGauran N, Grouven U, Kölsch H, Seay U, Hörn H, Moritz G, Staeck K, Wieseler B. Information on new drugs at market entry: retrospective analysis of health technology assessment reports versus regulatory reports, journal publications, and registry reports. BMJ 2015; 350: h796

[10] Eyding D, Lelgemann M, Grouven U, Härter M, Kromp M, Kaiser T, Kerekes MF, Gerken M, Wieseler B. Reboxetine for acute treatment of major depression: systematic review and meta-analysis of published and unpublished placebo and selective serotonin reuptake inhibitor controlled trials. BMJ 2010; 341: c4737

[11] Haag S, Junge L, Lotz F, McGauran N, Paulides M, Potthast R, Kaiser T. Results on patient-reported outcomes are underreported in summaries of product characteristics for new drugs. J Patient Rep Outcomes 2021; 5: 127

[12] Weersink RA, Timmermans L, Monster-Simons MH, Mol PGM, Metselaar HJ, Borgsteede SD, Taxis K. Evaluation of Information in Summaries of Product Characteristics (SmPCs) on the Use of a Medicine in Patients With Hepatic Impairment. Front Pharmacol 2019; 10: 1031